Emotionen und Singen

„Musik ist der Wunsch nach einer ekstatischen Beziehung zum Leben"

(Keith Jarret)

 

Als ich 16 Jahre alt war, traf ich mein erstes grossen Vorbild in Sachen Psychologie, einen tiefenpsychologischen ausgerichteten Therapeuten aus New York. Ich fühlte mich nach jenem ersten Seminar auf einen Schlag völlig angeknipst und fast wie auf Drogen, weil ich eine Ahnung davon bekam, dass das, was uns umtreibt, noch eine ganz andere Tiefe besitzt. Ich ahnte, dass die sich schnell ändernden Gefühle nur die Spitze des Eisberges waren, und dass es sich lohnt, abzutauchen und zu schauen, was für Emotionen dahinter stecken; der ganze Gefühlstopf der Emotionen als ein Sammelbegriffe für individuelle Eigenarten des Gefühlslebens, der Affektsteuerung und des Umgangs mit unseren Gemütsbewegung.

Ich wurde Musiktherapeutin, weil die Gefühle, die Emotionen mich anlachten, weil ich sie verstehen wollte, weil ich genau das wollte, was Keith Jarret in seinem schönen Zitat verspricht: die „ekstatische Beziehung“ zum Leben. Ich wurde Musiktherapeutin, weil ich Anderen da rein helfen wollte, weil ich begriff, dass das, was wir mit Sprache erfassen, meist nur die Spitze des Eisberges bleibt; das dahinter, darunter sich noch Schichten um Schichten verbergen, die man erforschen kann, und das es diese Schichten sind, die uns oft in Gefühle, in Handlungen bringen; und in seltensten Fällen verstehen wir alles davon.

Ich begriff auch, das es manchmal eiskalt und beängstigend ist unter dieser ersten Schicht und man sich ganz schön verloren vorkommt, aber das es sich lohnt, dorthin abzutauchen, weil in Ihnen auch der Schlüssel zur Ekstase eingefroren ist.

Mir war klar, die Musik ist sozusagen der direkte Fahrstuhl runter und die Therapie der Tauchanzug, mit dem man sich runter wagen kann. Musiktherapeutin zu werden war daraus eine logische Konsequenz.

Es war zunächst nur eine Ahnung, dann im Laufe des Studiums und meiner Berufstätigkeit eine Bestätigung; Wenn ich mit den Menschen Musik mache und improvisiere, bin ich in komplett anderen Schichten, ich tauche in frühen Erfahrungen rum, hab statt dem 6ojöhrigen Mann einen Fötus vor mir, dem ich musikalisch auf seine ersten Schreie antworte, ich bewege mich sogar in vorgeburtlichen Spähren, wo plötzlich die Panik auftaucht, nicht geborgen im Klang des Uterus zu sein, ich beantworte Kinderfragen, ziehe in Autonomiewünschen als Jugendclique musikalisch durch die Gegenden; Es entsteht so viel in dieser gemeinsam improvisierten Musik; wir fühlen uns zusammen, harmonisch, getrennt, oder auch stumpf und verloren, fragend oder beantwortet und manchmal sogar auch ekstatisch. Manchmal fühlt es sich vertraut an, und manchmal fremd, und oft kommen wir in dem Verständnis ein Stückchen dem näher, was wir wollen. Manche Fragen oder Anklänge lassen sich nur in der Musik beantworten, manche gilt es zu verstehen und über die Wasseroberfläche zu holen und Sie dann anders zu integrieren.

Später- im Laufe meiner Yogalehrerinausbildung und in der Beschäftigung mit Achtsamkeit und Meditation lernte dann, dass es auch manchmal gut ist, nicht jede Gefühlsregung so „ernst zu nehmen“, ihr zu folgen in die Tiefe. Ich lernte, dass es schnelle Gefühlsregungen gibt, und tiefe Emotionen, dass man im therapeutischen Prozess lernt, diese zu verstehen, zu unterscheiden, wann folge ich ihr, wann gehe ich in die Tiefe, wann kann ich was ertragen. Wie stärke ich meine Selbstwirksamkeit so, dass ich unterschieden kann, ob ich auf der Spitze bleibe oder mal in die Tiefe will? Wann weiss ich, dass es Sinn macht abzutauchen? Wann will ich den Fahrstuhl nach unten nehmen, und was ist, wenn der Tauchanzug nicht dick genug ist?

„..brauche keine Angst, hab nichts zu verlieren, bin neugierig und freue mich, auf das was zu mir kommt.. (Liedtext Wolfgang Friedrich)

Ich fing an, mich mehr und mehr mit dem Singen zu beschäftigen. Eine neue Qualität entstand, ein neues Verstehen, was es mit den Emotionen eigentlich auf sich hat.

„Wer singt, verscheucht sein Unglück“ sagt ein spanisches Sprichwort. Ich stelle es mir vor wie im Märchen, in dem man immer eine Wunderwaffe bei sich hat. Es trifft den Kern davon, dass uns das Singen zum einen in die Tiefe bringen kann und zum anderen hilft, mit unseren Emotionen umzugehen, Ihnen etwas entgegenzusetzen, sie zu steuern; das berühmte Singen gegen die Angst zum Beispiel, wenn man die Treppe zum Keller runtergeht. Unser Parasympatikus reagiert sofort mit Beruhigung.. „hier ist etwas in Ordnung“ scheint er zu sagen.

Und: es ist wie „..einmal den Fuss in das Wasser halten“; es wird etwas angerührt, oft spüren wir plötzlich eine Sehnsucht, ein Gefühl, was vorher nicht da war, haben ein Ahnung davon, wie viele Schichten es da unten noch gibt und welche Ekstase die für uns bereit halten könnten.

Die Melodien erzählen uns, wie viel Sehnsucht wir nach Begegnung haben, der Klang nimmt uns mit in das getragene Gefühl von funktionierender Liebe, der Rhythmus bringt uns vielleicht in eine Lebendigkeit und Ekstase, die wir verdient haben. Und am Ende des Liedes kann ich erneut entscheiden, möchte ich wieder eintauchen, oder den Fuss zurückziehen, oder ist der Wasserstand gesunken und ein bisschen mehr von der Spitze frei.

„wo viel Gefühl ist, ist auch viel Leid“ (Leonardo da Vinci)

Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, geht es erstmal oft ums Überleben. Das kann man vergleichen mit jemanden, der erstarrt oben auf der Eisspitze sitzt. Emotionen werden nicht riskiert, weil sie überschwemmen können; die Lebendigkeit wird mit geopfert.

Musik hat diese fantastische Eigenschaft, die man kaum in Worte fassen kann- sie berührt und trägt immer auch was Überirdisches und Archaisches in sich; sie erinnert uns daran, was wir fühlen und was wir sindund sein könnten, wenn wir es einen Moment schaffen, nicht um und in uns zu kreisen.

Das Singen verbindet uns dazu noch auf eine ganz besondere Art mit unserem Körper und unserem Ausdruck; es hält eine Struktur bereit, in der wir gleichzeitig fühlen und handeln und uns als selbstwirksam erleben können.

Vielleicht können wir uns dort trauen zu fühlen und dem Ekstatischen immer wieder ein Stück näher kommen.