Chaos und Singen

Es gibt die alte Idee, dass dort, wo es Optionen gibt, Chaos herrscht und wo es keine andere Option gibt, Klarheit. Wenn Sie keine andere Wahl haben, müssen Sie dort sein, und Sie müssen Ihr Herz darin haben“ —  (Sean Penn)

 

Chaos ist- zumindest in unseren Breitengraden- wahrscheinlich nicht der beliebteste Zustand, in dem man sich so befinden möchte- und doch übt er eine ungewöhnliche Faszination aus. Doch braucht man Chaos? und was mache ich, wenn ich mittendrin bin? und komme ich da wieder raus?

 

Der Begriff „Chaos“ kommt aus dem griechischen und ist der Gegenbegriff zu Kosmos; im Kosmos gibt es eine klare Ordnung! und irgendwie gibt mir das das Gefühl, dass Chaos immer nur „kleiner“, irdischer sein kann, dass es darüber immer noch eine grössere Ordnung gibt, auch wenn sie für uns nicht so sichtbar ist in dem Moment; das bringt dann doch wieder etwas Ruhe rein.

Ich überlege, ob es in der Natur eigentlich Chaos gibt und mir scheint, dass es vielleicht manchmal so aussieht, aber dann, wenn man genau hinguckt oder einen Moment wartet doch immer die Struktur wieder sichtbar wird. Ebenso in der Musik, in der Improvisation. Was für uns nicht mehr vertraut erscheint bezeichnen wir gerne als Chaos. Und abgesehen davon, dass das, was wir als Chaos bezeichnen, wahrscheinlich sehr unterschiedlich ist bei einem Freejazzer und jemanden, der am liebsten 80er Jahre Charts hört, könnte man - bemüht man sich - wahrscheinlich doch relativ schnell wieder eine Struktur raushören. Und unser Ohr will- und wahrscheinlich die anderen Sinnesorgane auch, dass es sich zumindest wieder auf eine Struktur zubewegt, einem Rhythmus, einer Orientierung. Und trotzdem wäre es fast langweilig ohne diese Momente, in denen wir eben nicht einordnen können.

Forschungen beschreiben beispielsweise, dass beim Hörgenuss dann Gänsehaut entsteht wenn die richtige Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit gefunden wird; dann können wir sowohl den Moment der Auflösung, als auch den Moment der Klarheit wieder anders wertschätzen, dann passiert die Magie, dieses Gefühl, "dass es übernimmt".

 

Das obrige Zitat beschreibt sehr schön,wie ich finde, die Offenheit dieses Zustandes; dort wo Chaos ist, gibt es Optionen, Wandel, Bewegung- zum Preis dessen, dass- zumindest für eine Weile- die Klarheit abhanden kommt.

 

Manchmal können wir wählen, wie viel wir uns im Chaos bewegen wollen, manchmal das Chaos sogar herbeiführen, es gibt sicher Typen, Charaktere, Nationen, denen das Chaos näher ist, die damit leichter umgehen als andere; in unserem Kulturkreis tun wir uns eher schwer mit offenen, chaotischen Zustanden, die vielleicht sogar an andere Bewusstseinszustände anknüpfen, an Rausch, an Ekstase, an Offenheit in alle Richtungen.

„Du bist ein Chaot“ ist bei uns und in unserem Sprachgebrauch eher polemisch und abwertend gemeint; und doch gibt es zum Bespiel die Idee, dass z.B. ein Künstler sich doch eher auf dem Pol des Chaos befindet, während sehr strukturierte, ordentliche Menschen am Pol der Ordnung. Heisst das, es braucht dieses Chaos, um den Zugang zum Kreativen zu bekommen? Zur Intuition? Zum „pflücken“ von Kreativität und Kunstwerken? Braucht es das Chaos im Kleinen, um die Verbindung zum Kosmischen im Grossen zu finden?

 

Nietzsche sagt:

„Man muss noch Chaos in sich haben,

um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

und wenn wir diese Zustände auf eine gute Weise einladen können in unser Leben, könnte das nicht uns allen einen viel besseren Zugang zu flow- Erfahrungen, zu Kreativität, zur Anbindung zur Gemeinschaft geben?

Suchen und brauchen wir diese Erfahrungen nicht auch ganz dringend, haben wir doch die Ahnung, dass sie wichtig sind. Und gestatten sie uns dann doch „nur“ in dem Glas Wein am Abend? Sind nicht z.B. Süchte auch eine Sehnsucht nach diesen aufgelösten, undefinierten Zuständen?

 

In einem anderen Zusammenhang las ich gerade, ein Aspekt von Glück sei ein „sich verlieren“ in etwas, das wir nicht sind. Auch diesen Aspekt beinhaltet das Chaos für mich, dass die Grenzen des Egos nicht so klar gesteckt sind, ich mich nicht „definieren“ muss und somit auch nicht abspalten von den Anderen, ich nicht gezwungen bin zu einer klaren Haltung. Ich kann tanzen, in Bewegung bleiben, mich den Strömen des „um mich herums“ ergeben.

Es fährt mir gleich ein bisschen in den Körper und ich habe die Fantasie, wenn ich mich nur genug bewege, dann fällt mir die Anpassung an das Chaos ganz leicht, dann bin ich mit im Strom, dann kann mir das Chaos gar nichts anhaben. Ich muss nur genügend in Bewegung bleiben.

 

In der indischen Mythologie verkörpert die Gottheit Shiva das Prinzip der Zerstörung. Oft wird er tanzend dargestellt, mit vielen Armen und Beinen. Außerhalb dieser Trinität verkörpert er Schöpfung und Neubeginn ebenso wie Erhaltung und Zerstörung, er sei der Gott der Veränderung. Für die Veränderung braucht es das loslassen, das Beenden des Alten.

 

Bei den fünf Rhythmen von Gabrielle Roth (ursprünglich ein Tanzkonzept, das unterschiedliche Seins- zustände in wundervoller Art durchtanzt und das wir ab und zu „durchsingen“) folgt auf das Chaos das Lyrische und die Stille. Und was für eine Tiefe erfahren wir dort! Welch Reife, welch andere Qualität von Ankommen, Haltung, Stille, nach Hause kommen, des "sich wieder -findens"

 

„Inmitten von Bewegung und Chaos herrscht immer noch Ruhe in dir.“

(Deepak Chopra indischer Autor)

 

Vielleicht ist die Ruhe auch immer da, und wir brauchen nur tanzen und fliessen und darauf vertrauen, dass wir sie wiederfinden.